mein vor allem praktisches immerwährendes studienthema ist die schönheit

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dann falle ich doch in erinnerungen: fachschaftswahlen germanistik, r.z., der sich als redner nicht fit fühlt, überredet mich, der ich seinen text nicht kenne, die rede für ihn zu halten. während dem vortragen und ablesen lerne ich den text kennen, faszinierend, schwierig, die sprache, die begrifflichkeit, das weiss ich noch, den inhalt habe ich vergessen und den text habe ich nicht aufbewahrt. ich weiss noch, dass ich diesen schwierigen, eher reflexiv-analytischen text demagogisch-agitatorisch vortrage. Wie ich das gemacht habe, weiss ich noch heute nicht. aber ich lernte damals, dass ich eine sehr schnelle auffassungsgabe habe und rhetorisch einigermassen gut bin. (ich kam mir auch als hochstapler vor, der Felix Krull eine meiner lieblingslektüren)

der text von r.z. und die situation haben mich inspiriert: diesem niveau wollte ich nacheifern, auf jeden fall nicht drunter gehen.

natürlich wurde ich damals gewählt, kam in die fachschaft und hatte einen einzigen auftritt, die herren professoren hatten die mehrheit und waren zum gemütlichen legeren beisammensein unter sich, ich sagte ihnen das und dass es eine irrelevante schwatzbude sei, in der ich keine zeit verlieren wolle. ehrlich gesagt (heute kann ich es ja zugeben), so allein unter professoren hatte auch etwas einschüchterndes (trotzdem fiel mir der feine cashmire des konservativen lehrstuhlinhabers auf), ich machte meinen nachteil durch frechheit wett.

r.z. bin ich nach diesem auftritt nicht mehr begegnet, er promovierte über Büchner und ging danach wohl ins verlagswesen. „funkelnde geistige brillanz“, habe ich damals gedacht. das war in der ersten hälfte der siebziger, ich warf mich auf die klassiker, die schönheit der theorie nahm mich ganz ein, noch den trockensten knochen konnte ich schmackhaft machen, mir selber und andern, das germanistik studium habe ich in meinem letzten jahr nachgeholt,  als eremit sozusagen, etwas anderes habe ich nicht mehr gemacht, keine politik mehr und ausgegangen bin ich auch kaum noch, ich habe mich in meiner abschlussarbeit vergraben. der reine genuss der „funkelnden brillanz“. ich wurde ein vermittler, ein weiterreicher, ein aufbereiter, wenigstens darin habe ich es wohl zu einiger „brillanz“ gebracht, ich hätte gerne gehabt, dass sie wirklich funkelt.

wie ich darauf gekommen bin? aufgrund einer synchronizität. mein vor allem praktisches immerwährendes studienthema ist die schönheit (auch die des untergangs), die politische wertigkeit der schönheit, und dabei bin ich auf das buch gestossen, bei dem r.z. als mitherausgeber fungiert: „Die Macht der Schönheit“. (München/Paderborn 2007). inspiriert zu meiner recherche in der eigenen vergangenheit hat mich heute morgen der radiokommentar des psychoanalytikers t.s.., der über das buch von agnoli referierte. Ich sass gerade beim ersten café und blätterte in der morgenzeitung (eine aufregung an der andern, die umwerfendste nachricht die von b. nielsens fünfter schwangerschaft, sie ist 54), zerstreut also und langsam arbeitete sich die schöne radiostimme in mein bewusstsein und ich schob die zeitung beiseite, die stimme zog mich regelrecht hinein, eine gelungene synergie von stimme und inhalt (ich kann beileibe nicht jedem zuhören) und so kam ich unerwartet auf die fachschaftswahlen, die wilde rede von damals, die umwerfende schönheit der situation und r.z.s buch. ich habe die revolte von 68 als aufstand der schönheit erlebt, noch im scheitern, ich erinnere mich lebhaft an meine lektüre von dieter duhms schriften während meiner abschlussarbeit, das war für mich der ausgang und die rückkehr nach lu ein schmerzhafter bruch, ein kulturschock. Ich brauchte eine weile, um den blick von dem hässlichen abwenden zu können, der hässlichkeit der verhältnisse.

meine suche nach schönheit, unentwegt, stur, mein ganzes leben lang, die schönheit einer gelungenen menschlichen beziehung, die schönheit einer person, die schönheit, die ich in gesichtern lese, in bewegungen, im regen, in der stille.

heute morgen zwei eichhörnchen an meinem fenster, die leichtigkeit und eleganz, die kühnheit und lebendigkeit. das lächeln geschieht ohne mich.

 

Lambert Schlechter – Etre en vie…

BEAUTY WILL SAVE THE WORLD

être en vie, c’est un étonnement & un bonheur
émerveillé que la respiration aille de soi

dire le matin bonjour au jour
se dilater dans la largeur du ciel

dire la nuit bonne nuit à la nuit
se dissoudre dans la confiance du sommeil

ouvrir les yeux sur la splendeur du monde
trink, o Auge, was die Wimper hält

et un jour, qu’importe, viendra la mort

*

to be alive, a wonder and joy
amazed that breathing just happens

to say good morning to the day
to dilate in the vastness of the sky

to say good night at night to the night
to dissolve in trustful sleep

to open one’s eyes to the splendour of the world
Trink o Auge was die Wimper hält

and one day, it doesn’t matter, death will come

***

Lambert Schlechter (né en 1941 à Luxembourg)Piéton sur la voie lactée (Phi, 2012)

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